Familienunternehmen

Von Volkmar Draeger

Gina Pietsch und Gerlinde Kempendorff mit der
„Ballade von der Freundschaft”

Zwei Männer, verschlagen auf eine einsame Insel, dort in Liebe und Hass einander ausgeliefert. Einer nur kann fliehen, keiner aber will es sein. Schließlich lässt sich einer an den Baum binden, der andere, gerettet, bald im Arm einer Frau, kann den Anblick des skelettbleich Zurückgebliebenen nicht vergessen. So beginnen Gina Pietsch und Gerlinde Kempendorff ihren Brecht-Abend, der den Titel jener „Ballade von der Freundschaft” von 1920 trägt, die Hans Dieter Hosalla 1980 vertonte.
Was die Sängerinnen, Schauspielerinnen, Dozentinnen, in Jahrzehnten Bühnentätigkeit zu starker Präsenz gereift, auf ihrem Streifzug durch 40 Jahre Brechtschen Nachdenkens über Freundschaft und Liebe aufgespürt haben, wächst sich in ein-dreiviertel Stunden zum Meisterexkurs auch über Text- und Liedinterpretation aus.

Kempendorff, seit 2010 Dr. phil., ist groß, schlank, schneidend scharf in ihrer Diktion, Pietsch dagegen kleiner, unterm Langhaar blockhaft wie eine Barlach-Gestalt und ebenso expressiv. Kempendorff ist Intellekt und Stimme, Pietsch Gefühl und gestaltender Körper. In Freundschaft sind sie einander seit einem Vierteljahrhundert verbunden und damit prädestiniert, über sie, die Freundschaft, und etwas mehr zu singen. Erstmals stehen sie gemeinsam auf dem Podium, begleitet vom Saxofon des Sohnes Uli Kempendorff und dem Pianospiel Uwe Streibels, Klassenkamerad der Pietsch-Tochter. Ein Familienunternehmen höchster Qualität. Brecht in besten Kehlen und, doppelten Sinnes, Händen.

Was zu zweit mehr Spaß macht, philosophieren sie, die Keuner-Geschichten zitierend, wissen indes auch, dass jeder Beziehung ein wiewohl auch ungeschriebener Vertrag unterliegt: Lange Dauer mache ihn elastischer. Zuviel Selbstlosigkeit schadet: Der einen halben Mantel abgab, erfror wie der Empfänger der anderen Hälfte.
Das nennt man Dialektik, gleichermaßen beide Seiten der Medaille betrachtend. Wie man sich bettet, so liegt man, gibt Kempendorff mit Tiefe, Kraft und ätzend böse den „Mahagonny”-Song; wie viele Niederlagen man aushalte, das zähle, steuert Pietsch bei. Im Duo agieren sie, teilen Texte und Pointen auf, ergänzen einander trefflich, die eine mit dunkel gefärbtem Timbre und vollem Forte, die andere einzigartig subtil in der Stimmgestaltung.

In Paul Dessaus „Lied der Kompanie” von 1955 reiten sie, Weills „Kanonen-Song” von 1928 aus der „Dreigroschenoper” ist mitreißender Marsch, den Pietsch sofort neutralisiert: Ihr klagender „Oh Falladah, die du hangest” aus der Hanns-Eisler-Revue „Es war einmal” gerät zur aufwühlenden Anklage von Armut, die Menschen zu Pferdefressern degradiert. Im Dialog „Gut so” aus „Fatzer” geht es um den Aufruf, zu ändern, was schlecht ist, im „Gegenlied” um die Aufforderung, es sich in der Welt häuslich einzurichten.

Pietsch ist frivole Dirne in „Ich habe gelernt” aus „Mahagonny”, die, den Rock gelüftet, den naiven „Jimmy” Kempendorff nach seinen Wünschen fragt; Kempendorff antwortet im „Kuppellied” aus „Rundköpfe und Spitzköpfe” mit Eisler-Attacke, Geld mache sinnlich und Fraß warm. So different ist Liebe, dass in Kurt Schwaens „Liebeslied” zwei Menschen einander beiwohnen und sich doch fremd bleiben, im „Ehe-Song”, vertont von Pietsch, Gefühle praktisch, nüchtern und höchst ironisch betrachtet werden können. Mit dem rasanten „Eifersuchts-Duett” aus der „Dreigroschenoper” den „Beiden”, die, unfähig, sich Liebes zu sagen, nur gemeinsam klagen; dem Wolf, der das arglose Huhn, dem Herrn, der die einfältige Magd überlistet. Auch die zwei Musiker haben ihre swingende Einlage. Unübertroffener Höhepunkt: „Das Lied vom Surabaya-Johnny” in Pietschs grandioser Interpretation. Das – und Brechts Wunsch nach dem Tod, dem schnellen, im letzten Lebensjahr – wirkt nach.
(Neues Deutschland, 17.02.2011)